Eine Anästhesistin denkt über Yoga nach
Mein Beruf ist es, auf Menschen aufzupassen. Ich bin eine Bewacherin. Eine Behüterin. Ich kümmere und sorge mich, dass Menschen genug Luft bekommen, ihre Atemwege frei sind und frei bleiben. Ich bewache ihren Schlaf. Bewahre sie vor Schmerzen. Ich sorge für ein kräftig rhythmisch schlagendes Herz, sodass die Lebensenergie, der Sauerstoff bis in die kleinsten Winkel des Körpers verteilt und dass jede einzelne Zelle großzügig mit diesem Elixier versorgt werde. Ich steuere das Einschlafen und das Erwachen. Ich verwende dazu meine bloßen Hände, mein Gefühl, mein Wissen und ich verwende dazu Maschinen. Mehrmals täglich ermahne ich die Menschen tief und kräftig zu atmen. Ich überwache sie, bis sie selbst wieder den Taktstock des Ein-und-aus-und-ein-und-aus in Händen halten. Meinen eigenen Atem, meinen Herzschlag beachte ich zu wenig. Ich schenke ihm zu wenig Aufmerksamkeit. Schenken. Eine Geste der Zuneigung. Aufmerksam auf meinen Atem werde ich nur, wenn er knapp ist oder er mir geraubt wird. Warum? Zu selten ist mir klar, dass ich auch die Behüterin und Lenkerin meines eigenen Atems sein kann. Dass ich ihn mir zu Nutzen machen und Kraft und Klarheit oder Ruhe und Trost aus ihm schöpfen kann. Und so verwundert es mich ganz ungemein, warum ich nicht früher zum Yoga fand. Was mich vom Yoga abhielt waren Vorurteile. Soweit so gut. Trotz aller Ressentiments hab ich es doch ausprobiert, weil das Studio so nah ist. Bin ich halt hin. In einer luftundurchlässigen aber durchaus bequemen Wollhose. Weil für das Rumsitzen sollte sie schon bequem sein, die Kleidung. Wie hab ich das bereut. Ich habe geschwitzt. Und wie. Aber das Schwitzen ist zweitrangig, viel wichtiger ist: ich habe geatmet. Ich habe meinen Atem wahrgenommen und ihm Beachtung geschenkt. Ich habe ihm gehuldigt. Ihn betrachtet. Und: ich habe erfahren, was der Atem mit mir tut, meinem Körper, meinem Befinden, meinem Geist. Bei meinen Patienten kann ich das Atemvolumen erhöhen, die Häufigkeit des Ein-, und Ausatmens, ich kann die Druckverhältnisse in der Lunge verändern, ich kann das Verhältnis zwischen Ein-, und Ausatemzeit variieren, ich kann die Sauerstoffzufuhr erhöhen. Ich beobachte, was dies mit den Vitalwerten macht, der Sauerstoffsättigung und dem Blutdruck, wie die Hautfarbe, die Lippenfarbe der Menschen blitzschnell eine Nuance rosiger wird und wie schnell sich die Kapillaren nach sanftem Pressen wieder füllen. Ich messe, wie der Druck in den Lungen den Blutdruck beeinflusst und ob das Herz mehr Arbeit leisten muss. Ich selbst brauche keine Maschinen oder Apparate um Dinge mit meiner Atmung zu tun. Ich kann sie vertiefen, ich kann sie flacher fließen lassen, ich kann meine Lungen vollständig füllen und die Räume, in die der Atem fließt vergrößern, ich kann meine Lungen vollständig leeren, ich kann meine Atmung dahingleiten lassen, ich kann mich von Gedanken befreien, indem ich meine Achtsamkeit nur auf das immer wiederkehrende ein-und-aus-und-ein-und-aus richte. Ich kann mich ausbreiten. Weite. Leere. Stille. Fülle. Am liebsten verharre ich im scheinbar unendlichen Raum, dem Stillhalten zwischen zwei Atemzügen. Bin hier geborgen. Pranayamas. Atemübungen. Atemkunst. Was ich hier mache, beim Yoga ist so einleuchtend. Einleuchten. Licht strömt ein. Ich lenke meine Atmung, ich lenke meine Gedanken. Ich lenke mich dorthin, wohin ich will. Ich stärke mich und mache mich widerstandsfähig. Ich mache mich offen. Ich kläre mich. Ich schöpfe Energie. Der Atem, das ist das Beste, ist immer da. Verlässlich. Ob ich ihn wahrnehme oder nicht, ob ich ihm Beachtung schenke oder nicht. Aber warum ihn nicht beachten? Warum das Atmen nicht zur Kunst verfeinern? Zum Werkzeug eines guten Moments. Zum Werkzeug eines guten Lebens?






Wunderschön liebe Marion. ❤
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Dankeschön 🙏🏼
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