Am Jahresende haben wir die Angewohnheit Bilanz zu ziehen und spüren den Drang nach einem zumindest kleinen Neuanfang. Alten Ballast zurücklassen im alten Jahr. Nach vorne blicken, Fehler nicht mehr machen wollen. Vorsätze. Optimismus. Vielleicht. Was, wenn der Pessimismus überwiegt? In uns nagt. Was, wenn in uns etwas laut wird, das wir nicht recht einordnen können. Es geht uns gut. Uns. In unserer Welt. Wenn wir von oben herab auf unser Leben blicken. Aus der Ferne. Distanziert. So, als ob wir unbeteiligte Beobachter wären. Wir führen ein gutes Leben. Mehr oder weniger. Wir haben uns so viele unerfüllte Wünsche und Träume bewahrt, dass wir die Kraft haben weiter zu wurschteln (Anm.: österreichisch für „in einem gewissen Trott und ohne rechten Plan vor sich hin arbeiten“). Wie Sisyphus. Wir lesen gute Bücher. Wir kochen und genießen das Essen danach. Wir trinken Wein oder Gin. Oder Tee. Wir haben treue Freunde, eine Handvoll zumindest. Wir pflegen diese Freundschaften. Wir haben tiefgründige Gespräche, freuen uns aneinander, an unseren Partnern, unseren Kindern, an unseren Eltern und unseren Tieren. Wir gehen in unserem Beruf auf. Einiges ist uns schon gelungen. Wir haben Leben gerettet und Häuser gebaut. Wir sind weiterhin neugierig, wir haben das Staunen nicht verlernt. Wir hören nicht auf zu lernen. Wir wagen immer wieder Neues. Wir verreisen, sehen uns neue Länder an. Neue Menschen. Wir besuchen die Städte, die wir immer schon geliebt haben. Wir treiben Sport, spüren uns und unsere Körper. Wir sind gesund oder gerade genesen. Wir wissen gut, welch Geschenk die Gesundheit ist. Wir wissen, wie kostbar das Leben ist. Wir erfahren Tage mit Sonne und Freude und Heiterkeit, wir überwinden Liebeskummer und Niederlagen. Und dies alles, diese Art von Sein, diese Präsenz in der Welt, dieses Da-Sein macht uns anfällig. Verletzlich. Wir haben eine Prädisposition zum Weltschmerz. Wir haben keinen offensichtlichen Grund traurig zu sein. Sicher, wir balancieren, taumeln auf einem Drahtseil zwischen Optimismus und Pessimismus. Meist aber sind wir Melancholiker. Da ist etwas in uns. Etwas Dumpfes. Wir spüren es, weil wir Spürende sind. Spürer. Wir spüren es, können es aber nicht fassen. Wir sind informiert. Wir scrollen durch Facebook, Twitter oder what ever. Wtf. Wir lesen die Zeitung. Zeitungen. Wir hören Radio. Sehen fern. Reden mit den Menschen über das, was passiert in der Welt. Unserer Welt. Es ist da in uns. Atmet. Es stinkt. Es schmerzt. Es sticht nicht, brennt nicht. Es dümpelt so dahin. Wir sind unruhig. Der Schmerz verlässt und nicht. Selbst in ausgelassener Runde befällt er uns dieser Tage. Auch wenn wir uns schlafen legen. Er ist der erste, der uns begrüßt, wenn wir morgens erwachen oder mitten in der Nacht. Er bearbeitet uns und wirkt. Was ist das, was wir da wahrnehmen mit unseren feinsten Antennen, unseren Mikrosensoren, der hochkomplexen Maschinerie des sensiblen Menschen? Es ist das Leid der Welt, sage ich Euch. Die Schmerzen der Erde und all ihrer Lebewesen. Es ist aber auch der Schmerz der Überforderung mit der Welt, mit dem Unklaren, mit dem Nichtwissen darüber, wer das Netz wohl spinnt. Und ob wir bald in die Falle gehen. Ins Netz. Wir verstehen die Zusammenhänge nicht. Wir sind verunsichert. So viel Krieg, so viel Leid, soviel Elend. Was passiert mit unserer Welt? Wir gehen nicht gerade sanft mit ihr um. Wir schüren und zündeln. Es brodelt. Der Krieg rückt näher, weil wir im täglich in die Augen schauen. Wir leiden und verursachen Leid. Ganz nah schien uns der Kummer besonders dieses Jahr gekommen zu sein. 2016. Soviel ist passiert, was wir nicht verstehen. Können. Die Welt ist unüberblickbar geworden. Wir haben die Übersicht verloren. Die kranke Welt ist zu uns gekommen in Form eines Flüchtlings, in Form der Auflösung eines Friedensbundes, in Form machtgieriger Despoten, in Form von Terror, in Form von Steueroasen und Waisenkindern. Nachrichten aus aller Welt brechen unreflektiert, ungeschönt, verzerrt, ungefiltert und unbedacht über uns herein. Fast täglich. Kaum eine Pause gönnen uns die „Breaking News“. Wir sind gezwungen zu wählen. Was wir glauben, was wir glauben müssen, was wir glauben wollen. Unbehagen, Verstörung, Verunsicherung, Beunruhigung. Schmerz ist nicht das, was wir uns wünschen, schon gar nicht den Schmerz der ganzen Welt wollen wir schultern. Aber Schmerz ist auch ein Signal. Lebenswichtig. Er warnt, er macht uns aufmerksam. Er ruft uns auf, hinzuschauen. Ist alles wirklich so schwarz, so dunkel, so hoffnungslos? Können wir relativieren, abschwächen, abkühlen, klar sehen? Wie können wir in unserer kleinen Mikrowelt den Schmerz lindern. Können wir das überhaupt? Wir, die Spürer, die Melancholiker, die Sensiblen sind die, die am Leben hängen, an den Menschen, an der Sonne, an den Blumen, an den Bienen, an Gedichten und schöner Musik. Das ist der Preis. Kein gutes Leben ohne, hin und wieder , Weltschmerz.