Obwohl einer meiner Lieblingsplätze der ist, an dem ich ein Buch in Händen halten kann, wandere ich sehr gerne in meiner Heimat umher. Auch wenn ich bei weitem keine Bergfex* bin, erfasst mich beim schweißtreibenden Erklimmen der (mir zugänglichen)schönsten Plätze Tirols die helle Freude. Ich liebe die urigen Wälder, die Bäche, die Ausblicke ins Inntal oder andere Seitentäler. Ich liebe das herzliche „Griast enk“ beim Aufeinandertreffen auch völlig unbekannter Gesichter. Ich liebe das Vogelgezwitscher, den frischen Wind, die Steine über die ich steige und das köstliche Essen oben auf der Alm. Trotz alldem sind diese kurzen oder längeren Ausflüge etwas Alltägliches. Heimat eben. Wir haben uns hier ein wenig an diesen Luxus gewöhnt. Dennoch habe ich heute einen Tag erlebt, der besondere Erwähnung verdient. Warum? Weil es sich bei unserem heutigen Ausflugsziel um eine Rarität handelt. Eine Rarität in mehrfacher Hinsicht.
Schon der Ausgangspunkt unserer Tour ist besonders. Vals. Innervals. Besonders einsam, besonders ursprünglich, besonders Tirol. Ein recht enges Tal, mit kleinen Kapellen und schönen Bauernhöfen. Das Tal läuft in einer breiten Wiese mit einigen Heustadeln aus. Nur eine kleine, enge Asphaltstraße führt bis dahin, wo es nicht mehr weiter geht. Es geht nicht weiter, weil die nun hochaufwachsenden, in den Himmel schießenden massiven Wände kein Weiterkommen mehr erlauben. Nur zu Fuß natürlich könnte man sich weiterkämpfen- bis auf den Olperer sogar, einen stolzen 3400er. Wir haben von diesem Ort, der Zeischalm schon gehört. Dort soll ein liebenswerter Hirt mit Hang zur Kunst nach dem Rechten und 50 Stück Rindern sehen. Wir passieren einen verzaubert scheinenden Erlenwald (die aussehen, wie Birken) mit kleinen Bächlein, Farnen und Moos und steigen dann langsam einen mächtigen Wasserfall zunächst immer vor Augen und dann schließlich nur noch im Ohr den steilen Hang im Lichtspiel des Waldes empor.

Zweimal müssen wir Bäche kreuzen, die sich am Fuße von gutmütigen Wasserfällen die über unseren Köpfen eher sanft abwärts tropfen angesammelt haben. Man hat uns die zahlreichen Wasserräder, die der Hirt mit großer Passion gebaut hat schon angekündigt. Manche drehen sich übermütig, manche stehen still und ignorieren bewegungslos das Wasser, das über ihnen hinweg rauscht. Ein unscheinbarer Weg zweigt ab und wir sehen nach noch einigen anstrengenden Metern unser Ziel vor Augen. Eine Alpe gesäumt von liebevoll angelegten Steinmauern, die, wie ein Tor einen Spalt für die Besucher offen lassen. Und dann kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. Skulpturen aus Ästen und aus Stein geleiten den Weg zu den Gebäuden, die die Zeischalm bilden. Von weitem begrüßt uns der freundliche Hirt und eine Handvoll Gäste.


Wir waren auf dem Weg herauf nur zwei Menschenseelen begegnet, man freut sich hier droben auf Besuch. Man bietet uns einen Platz auf der Bank und einen Schnaps an. Man setzt sich zusammen und erzählt kurz. Woher man kommt, ob man diesen oder jenen kenne. Und dann berichtet der Hirt kurz aus seinem Leben. Das muss er wohl häufig im Sommer. Er tut es bereitwillig, so scheint es. Er habe immer nur hart gearbeitet, trotzdem sei er an jedem freien Wochenende vom Frühjahr bis in den Herbst und auch stets in den Ferien hier heraufgekommen. Auch seine Frau sei immer dabei gewesen. Nun in der Pension bleibt er den ganzen Sommer hier droben. Seine Frau kommt nur noch am Wochenende. („Zum Aufbetten“). Er hat lebendige Augen. Er hat weise Augen. Es scheint so, als habe er etwas verstanden, was viele nicht verstehen. Er hat verstanden, mit der Natur zu leben und sich zu begnügen.
Oftmals hat man den Eindruck, der Mensch sei nur Eindringling. Hier heroben auf der Zeisch ist alles in perfekter Harmonie. Jeder Stein, gefunden im unwegsamen Gelände und mühevoll heruntergeschleppt hat genau den Platz gefunden, der für ihn richtig ist. Einmal als nützlicher Alltagsgegenstand, einmal als Zierde. Gut versteckt hinter der Alm hat der Hirt eine kleine Kapelle gebaut. Ebenfalls dahinter, auf der anderen Seite, finden wir den Luxus einer Außendusche umgeben von einer kleinen Steinmauer vor.
Ein Stück weiter über der Alm eröffnet sich dann ein Platz, den man als magisch bezeichnen muss. Er könnte ebensogut weit im Norden, auf der schottischen Insel Skye etwa liegen, in Irland oder in einer längst vergangenen Zeit. Es könnte sich mit Phantasie um einen keltischen Kultplatz handeln. Ungern verwende ich in Zeiten des Baumumarmens den esoterisch vereinnahmten Ausdruck „Kraftplatz“, doch es lässt sich hier gut sitzen und auf eine mächtige Bergwand vor und ins Valstal mit seinen wenigen Häusern hinter uns blicken. Es thront hier stolz des Hirten prächtigstes Werk, ein vier Meter hoher Steinmann. Es lässt sich gut sitzen hier und schauen und atmen.
Es war ein schöner Tag und ein besonderer. Ich denke nochmals über den Hirt nach. Was er uns über sein Leben erzählt hat, scheint am unwichtigsten. Unwesentlich. Nicht zum Wesen des Hirts gehörig. Was mir viel mehr von ihm erzählt ist sein Sein hier droben. Sein langsames Leben hier. Seine Distanz zur Welt. Sein Einssein mit der Natur. Er trägt an jenem Tag so und so viele Steine von da nach dort und baut eine Mauer, ein Kunstwerk oder ein Artefakt. Er hütet das Vieh. Er sitzt am Abend allein da droben und betet vielleicht. Er freut sich über Besuch, er ist stolz auf sein Königreich. Er, der Hirt ist hier der König, obwohl die Alm nicht einmal sein Besitz ist. Besitz ist hier aber nicht wichtig. Nicht Haben, sondern Sein. Er freut sich, wenn die Leute wieder gehen und wenn es still wird auf der Zeisch, so mutmaßen wir.
Dieser Ort zeigt, dass der Mensch und die Natur, dass der Mensch und die Welt gar nicht so schlecht zueinander passen, wenn der Mensch auf sie Acht gibt. Dieser Ort zeigt auch, dass man am wenigsten das ist, was man da unten ist im Alltagstrott und in der Geschwindigkeit der eiligen Zeit. Dieser Ort zeigt, wer man ist, wenn man Herkunft, Beruf, Sorgen und vielleicht sogar seine Geschichte wie Kleidungsstücke Schicht für Schicht abgelegt hat und nur das pure Dasein, das In-der-Welt-sein übrig bleibt. Dieser Ort zeigt, wie wenig der Mensch zum Leben braucht, damit er ist.
Aber es ist wahrscheinlich ein Trugschluss. Es ist nicht wenig, was der Mensch braucht. Es ist ein Viel. Es ist eine unendliche Kostbarkeit. Es ist unbezahlbar. Es ist so viel mehr.


*Bergfex: typischer Bewohner der Tiroler Alpen. Verbringt den Großteil seiner Freizeit in den Bergen, wobei häufig die Anzahl der zurückgelegten Höhenmeter ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg der Bergunternehmung ist.