Milene

Wenn man eine Reise tut, kann man was erleben. Eine platte Redewendung. Wenn man eine Reise tut, dann eröffnen sich Welten, neue Bilder im Kopf, neue Erinnerungen, die wir in dunklen Tagen abrufen können, neue Klänge einer fremden Sprache formieren sich zu unverständlichen Konglomeraten, die uns eine Wohltat sind.

Eine Wohltat der ganz besondern Art ist das Buch „Milene“ der portugiesischen Schriftstellerin Lídia Jorge. Bevor ich die Reise nach Portugal antrat befragte ich die Suchmaschine meines Vertrauens (es ist nicht mehr Google) nach portugiesischer Literatur und vorgeschlagen wurde mir unter anderem sie: Lídia Jorge, eine der bedeutendsten portugiesischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Nach der Lektüre muss ich sagen, es handelt sich wohl eher um eine der bedeutendsten Stimmen der Weltliteratur. Ein Juwel. Eine Perle. Man sollte sie unbedingt lesen.

Worum geht es in „Milene“? Milene ist eine ganz besondere junge Frau. Sie ist anders und passt so gar nicht in ihre gutbürgerliche , wohlhabende, ja glamouröse Familie,  die schrumpft und immer kleiner wird. Nicht nur an Zahl, sondern auch an Herz. Das letzte Stück Herz der Familie Leandro scheint mit Milenes Großmutter zu Grabe getragen worden zu sein. Ausgerechnet bei der von den Leandros nur geduldeten kapverdischen Einwandererfamilie Mata, die die ungenutzte ehemalige Konservenfabrik „das Juwel“ bewohnt, findet Milene nach dem Verlust der Großmutter Trost, ein warmes Bett und ganz viel Zuneigung. Ausgerechnet zwischen Antonio Mata dem jungen, verwitweten Enkel der Patriarchin Ana Mata und Milene, dem eigenartigen Mädchen entspinnt sich eine  zarte Liebe, die alle Widerstände zu überwinden scheint. Es sind die Widerstände des Zweifels der Liebenden, vor allem aber die Widerstände, die sowohl auf der „schwarzen“ , als auch auf der „weißen“ Seite spürbar sind, die auf Farb-, Herkunfts-, und sozialen Unterschieden beruhen.

Das Buch ist ein Schatzkiste. Die Schätze bestehen aus poetisch reicher Sprache, ganz viel feinsinnigem Humor und einer präzisen psychologischen Zeichnung der Charaktere. Das Buch  trifft   den unschönen Zeitgeist und stellt sich die Frage nach Heimat, Fremdsein und dem, wie wir mit anderen, mit unseren Mitmenschen umgehen.

Ein Land eröffnet sich uns in erster Linie, wenn wir es bereisen und dann ganz bestimmt durch seine Kunst. Ich lege Euch diese Lídia Jorge ganz ganz eindringlich nahe. Portugal, Fernando Pessoa und sie sind mir schon ans Herz gewachsen.

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Lídia Jorge „MILENE“, erschienen bei Suhrkamp, aus dem portugiesischen von Karin Schweder-Schreiner.

Sommerlektüre

 

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4 3 2 1“ ein Roman von Paul Auster, Rohwolt

„Was wäre, wenn….“ ? Dies ist doch die Frage um die es in der Literatur eigentlich geht. Die Frage, die uns veranlasst Geschichten zu schreiben und Bücher zu lesen. Genau diesen Konditional reizt Paul Auster auf brillante Art und Weise aus. Gleich vier mögliche Lebensentwürfe stellt er seinem Helden Ferguson, geboren 1947 in Newark, USA zur Verfügung. Der gleiche Mensch, dieselben Startbedingungen für vier unterschiedliche Leben. Vier Biografien, ein Charakter. Und das erstaunlichste ist, dass Ferguson, egal, was ihm zustößt, dieselbe Seele behält. Nur ein Meister, wie Paul Auster schafft es, seine Leser über 1000 Seiten am Ball zu halten. Er selbst sagte: „Ja, die Geschichte ist lang und verlangt dem Leser viel Geduld ab, aber die Zeilen fliegen dahin“. Nach der Lektüre muss man fast sicher annehmen, die Liebe zu Büchern, zu Literatur, zum Schreiben sei einem in die Wiege gelegt, denn egal was Ferguson auch passiert, Bücher sind das Zentrum des Gravitationsfeldes, um das sich sein Dasein bewegt. Und Sex. Sex oder die Sehnsucht danach plagen den Helden immerzu, lassen ihn dann aber wieder in ungeahnte Höhen aufsteigen. Man könnte kritisch anmerken, es handle sich um das Alterswerk eines amerikanischen Bildungsbürgers, der sich an seine Jugend und verlorene Virilität klammert, wären da nicht diese beeindruckenden Frauenfiguren, denen Auster in der Gestalt von Fergusons Mutter Rose, einer wunderschönen talentierten Fotografin, der bisexuellen Kunsthistorikerin Vivian Schreiber, die dem neunzehnjährigen Ferguson in Paris eine Gefährtin und Förderin wird und Fergusons weiblicher Counterpart Amy Schneiderman, die unerschrockene Menschenrechtsaktivistin und Gerechtigkeitsfanatikerin Tribut zollt. 4 3 2 1 ist ein klassischer Coming-of-Age-Roman mit Tragödien und Glücksfällen, mit Schicksalsschlägen und zauberhaften Liebenswürdigkeiten, eine Geschichte der Vereinigten Staaten zwischen 1950 und 1970. Eine Hommage an das Buch, das Leben, die Liebe und daran, was alles möglich sein könnte, was uns nur zufällig trifft und welche Freiheiten uns, beängstigenderweise, offenstehen.

 

2 Wochen

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Zärtlich ist die Nacht“ von F.S. Fitzgerald, Diogenes

Es gibt Sätze, nach deren Lesen man innehalten und tief durchatmen muss. Sie sind von einer derartigen Schärfe und Schönheit, dass man sie wieder und wieder lesen will. Es ist nicht so, dass diese Sätze sich aneinander reihen und man wie einer Droge gegenüber irgendwann Toleranz entwickeln wird oder dass eine Art Gewöhnung eintreten könnte. Nein, diese Sätze treffen einen stets unerwartet. Man streunt durch die Geschichte, die Seiten, die Ereignisse tröpfeln dahin und „bang!“ – da ist wieder einer dieser Fitzgerald-Sätze, die einem den Boden unter den Füssen wegziehen und uns denken lassen, wie ist das möglich? Wie kann ein Mensch von dieser Welt Worte so aneinanderreihen, dass ein Satz zu einem Kunstwerk wird? Nun, F. Scott Fitzgerald kann es. Das Buch, ein Klassiker, erschienen unter dem Originaltitel „Tender is the Night“, an dem Fitzgerald neun harte Jahre arbeitete, war zunächst gar kein Erfolg. Für mich ist es eines meiner „Lebensbücher“. Warum? Vielleicht, weil es so harmlos, fast gelangweilt beginnt. Ein Strand, die französische Riviera, kultivierte amerikanische Gesellschaft, die uns anfangs nur müde gähnen lässt, obgleich uns das Träumen von Südfrankreich angenehm ist. Dann plötzlich der Bruch. Kaum jemand ist wie Fitzgerald in der Lage,  die Abgründe darzustellen, die sich hinter den scheinbar perfekten Leben der nur scheinbar perfekten Protagonisten auftun . Das Glück des Arztehepaares Diver scheint zunächst durch eine junge, reizende Schauspielerin gefährdet, bis man feststellt, dass es die dreckigen Flecken hinter der Fassade sind, die Lebensgeschichte, das, was ihnen zugestoßen ist, bevor die junge Schönheit sich in ihre Symbiose drängte. Man ist als Leser gezwungen zuzusehen, wie die Magie sich in Elend verkehrt, wie die Helden, die man lieb gewonnen hat scheitern und man kann nichts dagegen tun, außer sich an diesen großartigen Sätzen zu laben, die das einzige sind, was über die gestutzten Flügel der anmutigen Schmetterlinge hinwegtröstet. Ganz große Literatur.

 

Eine Woche

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„Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells, Diogenes

Hat man nur eine Woche Zeit, lässt sich dieser Roman von Benjamin Wells leicht und mühelos lesen. Gut, er ist nicht von der literarischen Qualität eines Auster oder Fitzgerald, wie auch? Aber was Wells kann, ist eine Geschichte erzählen. Und die Geschichte dreier zu früh verwaister Geschwister ist mitreißend, spannend, und traurig. Im Mittelpunkt der Geschichte steht einsam und verloren Jules. Jules, der seinen Bruder und seine Schwester so sehr zur Bewältigung der Trauer über den Verlust der viel zu früh verstorbenen Eltern brauchen würde, aber oft die Distanz zu ihnen schier unüberwindlich scheint, obwohl sie im gleichen Internat aufwachsen. „Es gibt keine Geschwisterliebe“, sagte  Anna Freud, die Kennerin der kindlichen Seele. Doch, es gibt sie, aber es ist eine schwierige, konfliktreiche Liebe. Ein Kampf um Abgrenzung und Annäherung, ein Kampf um Liebe und Distanz, den hier Benedict Wells vortrefflich zu beschreiben vermag. Und dann ist da noch Freundschaft und Liebe. Und die erstaunliche Tatsache, dass das Leben oft unergründliche Wege einschlägt, dass es uns überrascht und vom Hocker hauen kann, dass schließlich doch alles so kommt, wie es kommen muss und dass Dinge oft nicht dann enden, wann und nicht so, wie wir es erwarten. Am Ende dieses Buches bleiben Tränen wohl nicht aus. Aber es lässt uns auch mit wohliger Wärme und der Gewissheit zurück , dass das Leben am Ende jede einzelne Träne Wert ist.

  

Für Kleine, immer wieder

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„Der Troll und die wilden Piraten“ von Julia Donaldson und David Roberts, Knesebeck

Was kann besser sein, als ein Kinderbuch, das dem Kinde und dem Vorleser oder der Vorleserin gleichermaßen gefällt. Den „Grüffelo“ kennt jeder, selbst Menschen, die keine Kinder haben. Mit dem „Troll und den wilden Piraten“ hat die Autorin wieder eine wunderbare Geschichte geschaffen, in der Trolle und Piraten aufeinandertreffen, und man nicht aus purer Raffgier einen Schatz finden will, sondern um sich endlich einen anständigen Koch leisten zu können. Einfach hinreißend!2017-07-19 11.24.16-2