Was wir von Aristoteles lernen können.
Die englische Zuschreibung, die Eigenschaft, das Prädikat „kind“ ist für mich mit nur einem Wort nicht ins Deutsche übersetzbar, so viel drückt es aus, so viel an erstrebenswerter Tugend. Tugend, ein altes Wort, kaum noch gebraucht, dennoch brauchen wir es noch, dringender als je zuvor. Ich mache mir oft Gedanken darüber, was es heißt „kind“ zu sein. Ich möchte versuchen zu erklären, warum es für mich so unermesslich wichtig und gleichzeitig so schwierig ist, dem gerecht zu werden. Nun habe ich zunächst das Wörterbuch konsultiert und nachgelesen, welche Übersetzungen angeboten werden: nett, gütig, lieb, menschlich, liebenswürdig, freundlich, human, geneigt, wohlwollend, …Wir würden wohl am häufigsten von freundlich sprechen. Ein freundlicher Mensch, ein freundliches Gespräch, lächelnd, sonnig, süß. Freundlich ist zu wenig. Mich hat Barack Obamas Rede sehr bewegt, in der er sich bei seiner Familie bedankt und von seinen Töchtern folgendermaßen spricht: sie seien schön, sie seinen klug und gebildet, aber was ihn am meisten stolz auf sie machte sei, dass sie „kind persons“ seien. Das, was ich und vermutlich auch Obama meinte, wird wohl am ehesten mit gütig oder menschlich getroffen, mit geduldig, großzügig und nachsichtig. Da ich mich aus technischen Gründen nun mit einer Übersetzung zufriedengeben muss, wähle ich „gütig“ und bitte, alle anderen Attribute großzügig mitzudenken. Gütig kommt von gut. Wir können heute alles sein, alles erreichen. Wir können schön werden, uns bilden, Informationen fluten uns, wir können uns einen fitten Körper antrainieren und Sprachen erlernen, wir können uns stattliches Wissen über Musik, Kunst, Politik und zeitgenössische Architektur aneignen. Es bereitet uns keine Probleme, älteren Menschen einen Platz im Bus zu überlassen und Amnesty International mit kleinen oder größeren Spenden zu bedenken. Wir können uns mindestens einmal pro Woche bei unseren Eltern melden und keinen Geburtstag vergessen. Wir essen so wenig Fleisch, wie möglich und geben uns Mühe, nicht rassistisch, homophob oder in sonst irgendeiner Weise intolerant zu sein. Aristoteles nennt einige Tugenden: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit, Maßhalten und ähnliches. Für mich ist die Königin unter den Tugenden heute, in unserer modernen Welt des Narzissmus, der Selbstdarstellung, des Zahn-um-Zahn, der Ellbogentechnik, des „Survival-of-the-fittest“, des überbordenden Individualismus die Güte oder die „Kindness“. Ich erinnere mich an eine Szene aus dem bewegenden Film „Moonlight“ in dem das Erwachsenwerden eines schwarzen Jungen in Miami geschildert wird. Der kleine Chiron fragt seine erwachsenen Freunde, was denn eine „Fag“, eine „Schwuchtel“ sei. „Eine Schwuchtel ist ein Homosexueller, ein Mann, der einen Mann liebt, und so weiter und so fort“ dachte es in mir. Ich wurde eines Besseren belehrt und schämte mich. Ich schämte mich, weil ich mich in jenem Moment ertappte, nicht gütig, nicht wohlwollend und behutsam gedacht zu haben. Güte beginnt damit, wie wir denken. „Eine Schwuchtel ist nicht gleich Homosexueller“ so erklärt Chirons Freund ihm vorsichtig, „es ist eine Beleidigung für schwule Menschen. Du kannst schwul sein, aber lass dich nie eine Schwuchtel nennen“. Das saß. Ich war in Gedanken, ohne Zeugen und ohne meine Worte laut auszusprechen überführt worden, nicht gütig gewesen zu sein, nicht großherzig, nicht unvoreingenommen, nicht „kind“. Der griechische Philosoph Aristoteles lehrt uns, dass man Tugenden erlernen kann, erlernen muss. Dass sie uns zu einer zweiten Haut werden können. Wir müssen allerdings üben. Beständig und mit Fleiß. Das ist schweißtreibend und anstrengend. Vor allem leidenschaftliche und impulsive, engagierte und interessierte Menschen werden oft von ihren Urteilen übermannt, von ihren vorschnellen Reaktionen, von Unbesonnenheit und Spontanität, dem oftmals besser einige Sekunden ruhigen Abwägens vorausgehen sollten. Ich kenne das. Aber wir alle können gütige Menschen werden. Und gütig, nachsichtig und großzügig zu sein, macht froh und glücklich. Tapfer wird man, so Aristoteles, indem man tapfer ist. Mutig, indem man mutig ist und gerecht, indem man gerecht ist. Immer mit dem rechten Maß. Immer, so soll man, auch was die Güte betrifft, die Mitte finden. So würde Aristoteles kaum von uns verlangen zu einem Menschen, der uns verletzt oder beleidigt, gütig zu sein. Es gibt Momente im Leben, in denen es angebracht ist, zornig zu sein, traurig oder wütend. Tugendhaft leben, heißt nicht immer freundlich zu sein und höflich zu lächeln. Tugendhaftsein ist mit Maß die Mitte zu treffen, die Mitte zu uns und die Mitte zur Situation. Um ein glückliches und gutes Leben leben zu können, sollen wir uns Tugenden aneignen, die uns zum Habitus, zur Haltung werden. So wähle ich, in einer Welt, in der man alles sein kann, „kind“ zu sein, den Menschen wohlwollend gegenüber zu treten, menschlich zu sein in einer unmenschlichen Welt. Lernen wir, keine vorschnellen, kränkenden Urteile zu fällen, sei es auch nur in Gedanken. Von Aristoteles kann man viel lernen, zum Beispiel ein gutes Leben leben. Und wenn ich es selbst nie schaffe, so gütig zu sein, wie ich es mir wünsche, sind es die gütigen, die wohlwollenden, die großzügigen und die geduldigen Menschen, die ich am meisten bewundere.

Aristoteles ( Ἀριστοτέλης * 384 v. Chr. † 322 v. Chr. ) gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Philosophen und Naturforschern der Geschichte. Sein Lehrer war Platon, doch hat Aristoteles zahlreiche Disziplinen entweder selbst begründet oder maßgeblich beeinflusst, darunter Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Logik, Biologie, Physik, Ethik, Staatstheorie und Dichtungstheorie. Aus seinem Gedankengut entwickelte sich der Aristotelismus.





